Geprüfte Kinderarznei

Arzneimittelstudien mit Kindern?

Klingt besorgniserregend, kann aber die Therapien kleiner Patienten entscheidend verbessern

Der kleine Lukas kletterte auf die Behandlungsliege und war davon bereits vollkommen erschöpft. Sein Herz beruhigte sich auch nicht, als er schon wieder minutenlang still auf dem Rücken lag. Bis zu 170 Schläge pro Minute stellte Oberarzt PD Dr. Ingram Schulze-Neick vom Deutschen Herzzentrum Berlin bei dem Kind fest und wusste: hier war etwas ernsthaft nicht in Ordnung. Grund für die hohe Herzfrequenz des Achtjährigen war eine Kreislaufstörung durch eine sehr seltene und lebensgefährliche Erkrankung: dem idiopathischen Lungenhochdruck (pulmonale Hypertonie).

Der Kardiologe behandelte das Kind mit einer Medikamenten-Kombination aus den gefäßerweiternden Wirkstoffen Sildenafil und Bosentan. Den Beipackzetteln dieser Medikamente konnte er jedoch weder eine empfohlene Dosis für Kinder entnehmen, noch einen Hinweis darauf, wie jedes der Mittel auf den kindlichen Organismus wirken könnte. Es gab auch keine regelrecht durchgeführten Arzneimittelstudien zur Behandlung von Lungenhochdruck bei Kindern, auf die er hätte zurückgreifen können. So rechnete der Arzt die Dosis auf das Körpergewicht des Kindes herunter und fand mit den Eltern zusammen heraus, wie oft am Tag der Junge das Mittel verabreicht bekommen musste, damit es ihm besser ging. PD Dr. Schulze-Neick behandelte Lukas nach besten Wissen und Gewissen mit all seiner langjährigen Erfahrung als Kinderarzt im sogenannten „off-label-use“. Eine Ausnahme in einem besonders brenzligen Fall möchte man meinen: tatsächlich ist diese Art zu behandeln aber die Regel: Auf deutschen Intensivstationen werden Kinder in neun von zehn Fällen im „off-label-use“ therapiert.

Kinder sind keine „kleinen Erwachsenen“

Im Oktober 2003 stellten Hamburger und Göttinger Pharmakologen auf der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Kardiologie ihre inzwischen berühmt gewordene „Sotalol-Studie“ vor, die vom Bundesverband Herzkranke Kinder e.V. (BVHK) mit seinem Forschungsförderpreis ausgezeichnet wurde. Die Forscher hatten Überraschendes herausgefunden: Babys und Kleinkinder mit Herzrhythmusstörungen benötigten nicht niedrigere, sondern höhere Medikamentendosen des Betablockers Sotalol als Erwachsene, da sie die Arznei besonders schnell wieder ausschieden. Die Nieren Neugeborener mit Herzrhythmusstörungen hingegen arbeiteten ineffektiv, so dass hier wieder geringere Dosen Sotalol als bei Erwachsenen zur Behandlung nötig wurden. „Vielen Menschen ist da plötzlich klar geworden, dass Kinder therapeutisch nicht einfach wie kleine Erwachsene behandelt werden können, und deshalb war es eine sehr mutige und wichtige Arbeit,“ sagt Hermine Nock, Geschäftsführerin des BVHK im Gespräch mit BabyundFamilie.de. „Und je jünger die Kinder sind,desto schwieriger ist allgemein die Datenlage.“ Es sei allerhöchste Zeit, sind sich der Oberarzt aus dem Herzzentrum und auch Frau Nock einig, dass sich die Industrie nun endlich für Studien mit Kindern öffnet.

Aber warum existieren eigentlich so wenige Medikamenten-Studien mit Kindern? Die meisten Menschen reagieren – vor allem in Deutschland – besonders sensibel auf die Idee, Arzneien an hilflosen Kindern zu testen, ethische Bedenken wiegen vielerorts schwer. Davon abgesehen verspricht sich kein Unternehmen hier einen „Blockbuster“. Selbst wenn es ein Mittel gäbe, das vielen schwer kranken Kindern helfen könnte, so hätte der Hersteller noch eine Reihe von Fragen und Absatzproblemen zu klären: Wie hoch wäre die Dosis für ein Baby, wie viel verträgt ein Siebenjähriger? Für einen Jugendlichen wären Pastillen sicher zu schlucken, für ein Kleinkind wären aber Tropfen besser. Und wären Dosis und Darreichungsform der Arznei endlich an die kleinen Patienten angepasst, so könnten zwar dankbare Kids ihre Medizin lutschen – das große Geschäft bliebe jedoch vermutlich aus, denn jede Altersgruppe böte nur eine vergleichsweise kleine Zahl an Käufern. Kinder sind für die Pharmaindustrie einfach keine profitable Zielgruppe.

Industrie „bei der Hand nehmen“

Nachdem also die Pharmaindustrie jahrzehntelang viel zu wenig Interesse an ihren kleinsten Kunden hatte, versuchte der Gesetzgeber das seit ein paar Jahren zu ändern. Auf Druck von Wissenschaftlern, Fachgesellschaften, Elternverbänden und Selbsthilfegruppen ermunterte er bereits in der 12. Novelle des Arzneimittelgesetzes vom 6.8.2004 die Industrie zu klinischen Studien mit Kindern.

Auch ein so ausdrückliches, gesetzlich untermauertes “Ja” zu Studien reichte alleine noch nicht aus. Zu viele Lücken gibt es noch in der “Kinderapotheke” bei Mitteln gegen schwere Krankheiten wie Rheuma, Krebs, des Stoffwechsels oder eben bei Herz-Erkrankungen. Den nötigen Schub, um die jährliche Zahl von rund 20 neu zugelassenen Medikamenten für Kinder zu verdreifachen, erhofft sich Hermine Nock eher von der jüngst in Kraft getretenen europäischen Verordnung für Kinderarzneimittel. Darin soll vor jedem Antrag auf Neuzulassung eines Arzneimittels ein „Pädiatrieausschuss“ bei der EMEA (der europäischen Zulassungsbehörde) hinterfragen, ob das Medikament auch für Kinder einen relevanten Nutzen bei „vertretbarem Risiko“ haben könnte. Die Arzneimittelhersteller bekommen eine entsprechende Studie mit einer sechsmonatigen Patentschutz-Verlängerung honoriert, auch bereits auf dem Markt befindliche Arzneien lassen sich nachträglich prüfen und patentschützen. Kleiner Wermutstropfen hierbei: Den „Pädiatrieausschuss“ gibt es noch gar nicht. Derzeit wird noch darüber gestritten, wer die anspruchsvolle Aufgabe zu welchen Konditionen übernehmen soll.

Familien müssen begleitet werden

Und die Eltern? Sie sind es, die auf einmal vor der Einwilligung stehen, ihr Kind an einer Arzneimittelstudie teilnehmen zu lassen – neben all den anderen Problemen, die ohnehin schon auf der Familie mit einem schwer kranken Kind lasten. Eine schwierige Entscheidung. Wie kommen sie damit zurecht? “Viele Eltern arbeiten wunderbar mit. Sie informieren sich meist vorab im Internet und ich profitiere davon, dass sie ihr Kind einfach am besten kennen,” sagt Oberarzt PD Dr. Schulze-Neick. “Die Bereitschaft vieler Eltern ist nicht einfach per se da,” sagt dagegen Frau Nock. “Es ist extrem wichtig, dass die Eltern nicht bloß zu Beginn einer Studie über diese aufgeklärt, sondern dass sie die ganze Zeit über begleitet werden.” Wie es beispielsweise beim Kompetenznetz Angeborenener Herzfehler schon länger üblich sei, müssten auch die Ergebnisse der Studien für Laien zugänglich gemacht werden. “Je kränker ein Kind ist, desto eher ziehen die Eltern in der Regel mit. Das Mittel ist dann oft auch einfach die letzte Hoffnung. Aber gerade dann ist es besonders wichtig, alle Rechte und Pflichten genau zu kennen,” rät Frau Nock den Eltern. “Natürlich kann es Probleme geben. Wichtig ist für Eltern die Information, dass die Teilnahme an einer Studie jederzeit abgebrochen werden kann. Es kommt darauf an, wie Eltern und Ärzte die Probleme gemeinsam lösen!”

Lukas hat Glück gehabt – ihm geht es inzwischen deutlich besser. Bei aller Erleichterung darüber würde sein Arzt, PD Dr. Schulze-Neick, systematische Studien mit schwer kranken Kindern begrüßen. Aktuell führt er selbst eine Studie mit Kindern im Rahmen des Kompetenznetzes Angeborene Herzfehler durch. Die Bedenken, die kranken Kinder könnten von der Industrie ausgenutzt werden, sind ihm durchaus bekannt, aber er teilt sie nicht: “Jede klinische Studie, ob im Rahmen universitärer Forschung oder industriell gesponsert, muss unter den Richtlinien der “Guten klinischen Praxis” ablaufen.” betont er. “Da gibt es ganz strenge Vorgaben, die auch beispielsweise vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) zu prüfen sind.” Berührungsängste hat er keine: “Von mir aus kann dieses “Pi mal Daumen-Zeitalter” in der Behandlung schwer kranker Kinder gar nicht schnell genug zu Ende gehen.”

[@uelle: BabyundFamilie]